Wie wir werden, wer wir sind

Der Mensch ist nach Bauer lebenslänglich auf Beziehungen angewiesen. Er sehnt sich deswegen nach Resonanz  und leidet, wenn er ein resonantes Gegenüber vermisst. Emotional in einer Liebesbeziehung verbunden zu bleiben, heisst nichts anderes als mit einem Anderen in resonanter Schwingung sich gegenseitig auszutauschen und anzuregen. Insofern erklärt für mich der Prozess der Resonanz besser, was es braucht, dass eine Beziehung lebendig bleibt, als wenn man sagt, die Partner könnten sich nicht ins Gegenüber einfühlen.

Am Beispiel mitschwingender Guitarrensaiten erklärt er das Phänomen der Resonanz eindrücklich. Hält man zwei Guitarren in nahem Abstand und bringt die Saiten der einen zum Klingen, schwingen die Saiten der anderen mit, auch wenn man diese nicht berührt hat. Sie wurden sozusagen «angesteckt» zum Mitschwingen gebracht. Es ist nicht einfach ein Echo, das ausgelöst wurde.

Einfühlung wird häufig in dieser Art missverstanden, dass der Andere wie ein Echo die Aussagen zurückspiegeln soll. In Resonanz sein heisst eigentlich, fühlende Menschen lassen sich von den Aussagen des Anderen berühren und ihr eigenes Gefühl zum Schwingen bringen, welches sie dann wiederum dem Andern mitteilen, der sich nun seinerseits berühren lässt.

Interessant finde ich zudem, was Bauer über sogenannte Resonanzroutinen sagt, die sich in Partnerschaften einschleichen («Ich weiss wer du bist; ich weiss, was du sagen wirst….»). Solche Routinen entwickeln sich zwangsläufig und machen das Leben einerseits auch entspannter. Andereseits fühlt man sich durch solche Routinen nicht mehr wahrgenommen und entsprechend alleine in einer Beziehung. Die emotionale Verbindung wird schwächer. Das Rezept, das er anbietet, dass man den Partner immer wieder mal ganz neu entdecke und einen frischen Blick auf diesen werfe, dünkt mich aber zu einfach. In resonanter Verbindung zu bleiben und nicht in Routinen zu erstarren, gelingt meiner Meinung nur, wenn man selbst lebendig bleibt und in resonanter Beziehung mit den eigenen Gefühlen steht. Ein lebendiger Mensch ist offen, sich selbst und dem Andern gegenüber.

Klappentext

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zeigen: der Mensch wird ohne ein Selbst geboren. Wie aber entsteht unser Ich, das sich später von anderen Menschen abgrenzen kann? Was macht einen Menschen zu einem Individuum?

Diesen zentralen Fragen geht Joachim Bauer in seinem neuen grossen Werk nach und legt dar, dass unser «wahres Selbst» nicht in uns schlummert wie ein Bodenschatz, der darauf wartet, gefunden und poliert zu werden. Vielmehr ist es das Produkt von Resonanzen – unserer geteilten Erfahrungen, Freuden und Ängste.

Joachim Bauer macht uns bewusst, dass dieses Ich nicht – wie lange angenommen – in Stein gemeisselt ist, sondern im Prozess ständiger Selbst-Konstruktion ein Leben lang in Wandlung bleibt, wachsen und sich verändern kann. In Zeiten grassierender Ichbezogenheit und gesellschaftlichen Strömungen, die Selbstbehauptung durch Abgrenzung gegenüber anderen forcieren, vermittelt Bauer ein neues Bild davon, wie wir werden, wer wir sind, und erklärt, wieso wir diesen Weg nur gemeinsam finden.

Autor

Joachim Bauer  Blessing Verlag, 2019  ISBN 978-3-89667-620-7

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