Im Roman «Jenseits der Erwartungen» erzählt Richard Russo,  ein US-amerikanischer Schriftsteller, von drei Männern, die sich fremd geworden sind, und vom Umgang mit der Unsicherheit, ob die eigenen Lebensentscheidungen die richtigen waren. Beiläufig zeichnet er dabei auch ein Portrait des geteilten Landes. Man lernt die Menschen in ihrer Zerrissenheit verstehen und gern zu haben. Russo, aufgewachsen in einer kleinen, mittellosen Stadt Gloversville im Staat New York, Sohn eines Bauarbeiters und Enkel eines Handschuhmachers. Sein Herz ist den Leuten vom Land, Handwerkern wie auch College- Absolventen mit mittelprächtigen Karrieren (und wohl meist Trump-Wählern) zugewandt, die die Eliten der gut gebildeten Wohlhabenden der Ost- und Westküsten hassen, selbst aber von diesen für ihre einfache, manchmal plumpe Weltsicht verachtet werden. Russo (der selbst demokratisch wählt) skizziert und begleitet diese einfachen Menschen mit grosser Empathie und schildert deren innere Welt für mein Empfinden sehr wirklichkeitsgetreu.

Der Roman «Jenseits der Erwartungen» spielt in der Vorwahlphase 2015; Trump zeigt sich bereits als Kandidat auf der Bühne. Das Land, das uns der US-amerikanische Autor Russo zeigt, ist auch damals nur schon unter der weissen Mehrheit ein zutiefst in sich verfeindetes Land. Die grösste Kluft trennt Reich und Arm, zwischen denjenigen, denen die Chancen schon in die Wiege gelegt worden waren und die sich diese als Beweis ihrer Besonderheit oder ihres eigenen Verdienstes zuschreiben, und denen, die sich im täglichen Kampf abstrampeln, um wenigstens ein kleines Stück vom grossen Kuchen zu ergattern und sich so die Existenz zu sichern.

Drei ehemalige Absolventen eines mittelmässigen College, die dort miteinander ein Zimmer teilten und sich befreundeten, treffen sich als 66jährige Männer auf der Insel St. Martha’s Vineyard an der Ostküste wieder. Lincoln, ein gemässigter Republikaner, Immobilienmakler, «der aus einer Familie stammte, in der Fragen immer klar beantwortet wurden, hatte dort ein Haus von seiner Mutter geerbt. Teddy, der zweite Held, Verleger spiritueller Werke an einer Provinzuniversität (wohl am ehesten das Alter Ego des Autors) und Mickey, der Dritte im Bunde, Arbeitersohn italienisch-irischer Herkunft, Rockmusiker seit jungen Jahren, einer der immer noch gerne rockt. Alle drei waren in der Collegezeit verliebt in Jacy, eine wilde, unberechenbare Schönheit, die zwar mit einem reichen Jurastudenten verlobt war, aber vor der Heirat mit diesem zurückschreckte. Keiner hatte damals den anderen die Verliebtheit gestanden. Am Memorial Day 1971 haben diese drei nach dem College mit Jacy ein Wochenende im Ferienhaus von Lincolns Mutter auf St. Martha’s Vineyard verbracht. Nach diesem gemeinsamen Wochenende ist Jacy abgereist, verschwunden und tauchte nie wieder auf. Sobald die drei älteren Männer im Jahr 2015 sich wieder auf der Ferieninsel treffen, werden alte Träume und Erinnerungen wieder lebendig. «Jenseits der Erwartungen» springt zwischen Alter und Jugend, zwischen diesen beiden Wochenenden in den Jahren 1971 und 2015 hin und her. Jacy, die in all den Jahren immer weiter in ihren Köpfen herumgespukt hat, gewinnt dort eine fast unheimliche Präsenz. Was ist damals passiert? Hat sie die Insel vielleicht gar nicht verlassen, ist sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Und könnte gar einer der Freunde der Täter sein?

Um Chancen, solche, die man hat, und solche, die einem verwehrt werden, um den freien Willen, die Gene und das Schicksal geht es in diesem Roman, dessen Originaltitel «Chances are …» lautet.

Im Prolog des Buches sitzen die drei Freunde 1969 vor dem Fernsehen, wo die erste «Lotterie» übertragen wurde: Die Losnummern der Geburtstage entschieden darüber, wer wann nach Vietnam einrücken musste. Der Lebensweg hing von eine Lotterie ab, aus Zufall wurde Schicksal. Mickey, der damals das schlechteste Los für einen Einsatz in Vietnam gezogen hatte, scheint in all den Jahren am stärksten der Gleiche geblieben zu sein. Er lebt auch im Alter – ohne sich grosse Gedanken zu machen – einfach drauflos. Lincoln und Teddy, die dank Losglück vom Militärdienst verschont blieben, sind hingegen immer noch ein Stück weit gefangen in ihrem Traum und im Hadern, dass sie es in den jungen Jahren verpasst haben, Jacy für sich gewonnen zu haben, obwohl sie bisher ein insgesamt durchaus gelungenes Leben erfahren haben.

Hat der Mensch, gerade weil er sich im Geist bessere Welten vorstellen kann, nicht immer die Tendenz, sich an gewissen Träume ans Leben festzuklammern, diese insgeheim nie ganz aufzugeben und sich so das kleine Glück des verwirklichten oder tatsächlichen Leben ein wenig zu vermiesen. Im Sinne von «Wäre nicht mehr möglich gewesen, wenn….» Dass das reale Leben immer ein wenig kleiner ist oder sein muss als dasjenige, das man sich im Geist vorstellen kann, ist in der Natur des freien Geistes begründet. Realisieren heisst verzichten. Und reicht dann das kleine Glück für ein gelungenes, ein erfülltes Leben? Oder heisst es, solche heimlichen Träume möglichst immer wieder mal in die Realität und auf den Boden herunterzuholen, so dass die grossartigen, perfekten Blasen platzen können?

Hier noch ein paar Auszüge aus den letzten Seiten des Romans, in denen der Autor Russo eine philosophische Note anschlägt und das Thema des Romans subtil auf eine höhere Perspektive hebt und zusammenfasst.

«Wenn es so etwas wie eine zweite Chance gäbe, wenn wir alle mehrere Versuche hätten, unser Leben anzugehen, würden wir dann etwas anders machen?» (S. 425)

«Teddys Ansicht nach – und er hatte viel darüber nachgedacht – hing es davon ab, von welchem Ende des Fernrohrs aus man es betrachtete. Je älter man wurde, desto mehr neigte man dazu, es vom falschen aus zu tun, weil aus dieser Warte das ganze Durcheinander des Lebens aufgeräumt war; man erhielt den Eindruck der Unvermeidbarkeit. Charakter war Schicksal.» (S. 425)

«Im Grunde war es auch gar nicht möglich, das Leben von seinem ganzen Durcheinander zu entschlacken, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es ein grosses Durcheinander war.» (S. 426)

«Der Wettbewerb zwischen Schicksal und freiem Willen hatte deswegen eine Schlagseite, weil die Menschen das eine stets mit dem anderen verwechselten, indem sie sich inbrünstig gegen das stellten, was abgekartet und unabänderlich war, während sie die Dinge, die sie tatsächlich zu einem gewissen Grad in der Hand hatten, links liegen liessen.» (S. 427)

So fasst Teddy der Verleger, der zeitlebens Werke anderer korrigiert und verbessert hatte, am Ende der Geschichte, doch noch den Entschluss, ein eigenes Buch zu schreiben, obwohl ihm der Literaturprofessor am College damals davon abgeraten hatte. Im vollen Bewusstsein, dass es wohl nicht der grosse Wurf werden würde.

Ein ermutigendes Plädoyer, Träume und Chancen, die in den eigenen Händen liegen, anzupacken statt all den Träumen, die in fremden Händen liegen oder aus anderen Gründen nicht realisierbar sind, nachzutrauern.