Eine Analyse anhand der Erzählungen von Lew Tolstoj «Die Kreutzersonate» (1889) und Sofia Tolstoja «Eine Frage der Schuld» (1893/94)
Auch wenn heute gesellschaftlich viele Formen von Beziehung möglich sind und die klassische Form der Ehe, einer Beziehung mit lebenslanger Treue, als Ideal stark relativiert worden ist, herrscht nach wie vor ein ausgeprägtes Bedürfnis nach einer festen, dauernden Beziehung, die vom der Liebe getragen wird. Das Gefühl der Liebe und das Ausmass dieses Gefühls ist sozusagen zu einem Gradmesser geworden, wieweit eine Beziehung gut ist, auf jeden Fall gut genug, um weiter zusammen zu bleiben. Spätestens wenn man feststellt, dass die Liebesgefühle (fast) verflogen sind, wird dies als Zeitpunkt für den Start einer Paartherapie gesehen. Im Guten machen sich zwei Menschen dann mit Hilfe eines Dritten daran, den Gründen nachzugehen, wann und wieso sie ihre Liebesgefühle verloren haben. Im Unguten sind die verlorenen Liebesgefühle (zumindest für einen der beiden) ein klares Zeichen dafür, dass die Beziehung keinen Sinn mehr hat und besser beendet werden soll. Der einfache Schluss: wenn ich keine Liebesgefühle mehr spüre, die «Liebe» verflogen ist, ist der/die PartnerIn nicht mehr die Richtige! Die Sehnsucht nach diesem intensiven Gefühl von «Liebe», welches am Anfang einer Beziehung (in der Regel) vorherrscht, ist zum wichtigsten Kriterium einer stimmigen lebenswerten Beziehung geworden.
In der Literatur sind diese Themen – die Suche und der Verlust der Liebe und die damit verbundenen Gefühle – Stoff für gute und viele weniger gute Romane. Treffend hat meiner Meinung nach die Thematik und Dynamik von Liebessehnsucht, Verliebtheit und Liebesverlust Tolstoj erfasst und beschrieben. In seiner Novelle «Die Kreutzersonate» beschreibt er meisterhaft die Steigerung der Dynamik einer enttäuschten «Liebe», die in einem Eifersuchtsanfall des Ehemannes Posdnyschew bis zur Ermordung der Ehefrau führt.
Mit dieser Novelle wollte Tolstoj die Ehe grundsätzlich in Frage stellen, da eine Ehe immer auf sinnlichen Empfindungen beruhe und das Verfolgen sinnlicher Bedürfnisse insofern zwangsläufig zum Verderben führen müsse, als es das Niedrigste im Menschen anspreche. Sogar die Pflege geistiger Interessen wie Musik führen nach Tolstoj zu einer körperlichen Erregung, die eher das Tierische im Menschen zu Tage förderten statt dem Streben nach dem Ideal einer «wahren» Liebe. Zu dieser Zeit sah er dieses Ideal nur noch in einem christlichen Leben erfüllt, das jeglicher Sinneslust entsagt und dem Ideal des Christus nachzuleben versucht. Er selbst zog sich, schwermütig geworden, mehr und mehr von der Welt zurück, sogar auch von seiner Frau, die er offenbar bis an sein Lebensende geliebt hatte. Was die Pflege und der Austausch geistiger und kultureller Interessen wie der Musik betrafen, widersprach ihm allerdings seine Frau. Für sie stand das Pflegen solcher Interessen der Liebe nicht im Weg; ganz im Gegenteil.
Als Einstieg in Tolstojs Werk und in die Thematik, hier ein Ausschnitt aus dem Anfang des Werks. Der Protagonist Posdnyschew, nach der Ermordung seiner Ehefrau wieder aus der Haft entlassen, reist im Zug und ereifert sich beim Thema Liebe, das seine Mitreisenden zur Sprache gebracht haben, so stark, dass er ihnen im Verlauf der Zugfahrt seine ganze tragische Geschichte erzählt, die ihn nun am Wesen der «reinen Liebe» zweifeln lasse. Die heftige Diskussion startet bei der Frage, ob es überhaupt eine Liebe gebe, die ein Paar ein Leben lang binden und begleiten könne und welcher Art diese Liebe denn sei.
»Die wahre Liebe … Besteht diese Liebe zwischen Mann und Frau, so ist auch eine Ehe möglich«, sagte die Dame.
»Ganz recht – aber was soll man unter der wahren Liebe verstehen ?« fragte schüchtern lächelnd der Herr mit den glänzenden Augen.
»Jedermann weiß doch, was Liebe ist«, sagte die Dame, die offenbar die Unterhaltung mit ihm abzubrechen wünschte.
»Ich weiß es aber nicht«, sagte der Herr. »Wollen Sie mir genauer erklären, was Sie darunter verstehen!«
»Wie denn? Die Sache ist doch sehr einfach«, begann die Dame, dachte jedoch einen Augenblick nach. »Liebe ist die ausschließliche Bevorzugung eines Mannes oder einer Frau vor allen übrigen«, erklärte sie schließlich.
»Bevorzugung – auf wie lange? Auf einen oder zwei Monate oder auf eine halbe Stunde?« fragte der grauhaarige Herr und lachte hell auf.
»Nein, gestatten Sie – Sie reden anscheinend von etwas anderem.«
»Durchaus nicht, ich rede von demselben Thema.«
»Die Dame meint,« mischte der Advokat sich ein, »die Ehe müsse erstens einmal auf gegenseitiger Zuneigung – Liebe, wenn Sie wollen – beruhen; nur wenn diese vorhanden sei, könne die Ehe sozusagen als etwas Heiliges gelten; jede Ehe dagegen, der diese natürliche Zuneigung – oder Liebe, wenn Sie wollen – nicht zugrunde liegt, trage nichts sittlich Bindendes in sich. Habe ich Sie richtig verstanden?« wandte er sich an die Dame.
Die Dame gab ihm durch ein Kopfnicken zu verstehen, dass er ihre Auffassung richtig dargelegt habe.
»Weiterhin …« wollte der Advokat in seiner Rede fortfahren, doch der nervöse Herr, dessen Augen jetzt wirklich wie im Feuer glühten und der sich kaum noch beherrschen konnte, ließ den Advokaten nicht weitersprechen, sondern begann selbst:
»Gewiss, ich rede von eben derselben Bevorzugung eines Mannes oder einer Frau vor allen übrigen, und doch frage ich: eine Bevorzugung auf wie lange Frist?«
»Auf wie lange Frist? Auf sehr lange – zuweilen für das ganze Leben«, sagte die Dame achselzuckend.
»Aber das kommt ja nur in Romanen vor, niemals in Wirklichkeit. In Wirklichkeit hält diese Bevorzugung des einen vor den andern vielleicht ein paar Jahre an, was sehr selten ist, häufiger ein paar Monate oder Wochen, zumeist jedoch bemisst sie sich nur nach Tagen oder Stunden«, sagte der Grauhaarige, der sehr wohl zu wissen schien, dass er alle durch seine Meinungsäußerung in Erstaunen versetzte und darin ein
gewisses Vergnügen fand.
»Ach, was sagen Sie da! Nicht doch, nein … Nein, erlauben Sie einmal«, begannen wir alle drei wie aus einem Munde. Sogar der Handlungsgehilfe ließ zum Zeichen des Protestes einen unbestimmten Laut vernehmen.
»Nun ja, ich weiß,« überschrie uns der grauhaarige Herr, »Sie sprechen von dem, was man für Wirklichkeit hält, ich aber spreche von dem, was wirklich ist. Jeder Mann empfindet das, was Sie Liebe nennen, für jede hübsche Frau.«
»Ach, das ist ja schrecklich, was Sie da sagen! Gibt es denn unter den Menschen nicht jenes Gefühl, das man Liebe nennt, und das nicht nur Monate und Jahre, sondern das ganze Leben lang vorhält?«
»Nein, ein solches Gefühl gibt es nicht. Angenommen, selbst, ein Mann würde eine bestimmte Frau allen andern Frauen für das ganze Leben vorziehen, so würde doch die Frau aller Wahrscheinlichkeit nach einen andern vorziehen. So war es und so ist es immer in der Welt«, sagte er, zog eine Zigarette aus seinem Etui und zündete sie an.
»Aber das Gefühl kann doch auch gegenseitig sein«, sagte der Advokat.
»Nein, das ist unmöglich,« versetzte der Grauhaarige, »wie es unmöglich ist, dass auf einer Fuhre voll Erbsen zwei vorher markierte Erbsen nebeneinander zu liegen kommen. Es handelt sich übrigens hier nicht bloß um eine Frage der Wahrscheinlichkeit, sondern es tritt eben Übersättigung ein. Sein Leben lang einen
einzigen Mann oder eine einzige Frau lieben – das wäre etwa dasselbe, wie behaupten wollen, dass eine Kerze das ganze Leben lang brennen werde«, sagte er und zog gierig an seiner Zigarette.
»Aber Sie sprechen immer nur von der sinnlichen Liebe. Geben Sie nicht zu, dass es daneben eine Liebe gibt, die auf der Übereinstimmung der Ideale, auf geistiger Verwandtschaft beruht?« sagte die Dame.
»Geistige Verwandtschaft! Übereinstimmung der Ideale!« wiederholte er und ließ seinen Laut hören. »Aber dann brauchen sie doch nicht miteinander zu schlafen – verzeihen Sie, dass ich so geradezu rede! Um der Übereinstimmung der Ideale willen legen sich also die Menschen zusammen schlafen!« sagte er und lachte nervös auf.
»Aber gestatten Sie,« sagte der Advokat, »die Tatsachen widersprechen dem, was Sie sagen. Wir sehen, dass Ehen existieren, dass die Menschheit oder doch ihre Mehrheit im Ehestande lebt, und dass viele Paare ein langjähriges, ehrbares Eheleben führen.«
Der grauhaarige Herr lachte wieder auf. »Sie sagen, die Ehen seien auf Liebe begründet; wenn ich aber bezweifle, dass es neben der sinnlichen Liebe eine andere gibt, dann wollen Sie mir die Existenz dieser
andern Liebe damit beweisen, dass Ehen existieren. Die Ehen aber sind doch in unserer Zeit geradezu ein Betrug!« S5ff
Mehr als 100 Jahre später dreht sich die Diskussion noch um die gleiche Frage: Gibt es ein „wahres“ Liebesgefühl, das bewirkt, dass ein Paar ein Leben lang zusammenbleiben will. Und was beinhaltet ein wahres Liebesgefühl: sind es, genau betrachtet, einfach sinnliche oder andere Lüste? Und tritt deswegen nach einer gewissen Zeit eine Übersättigung und Verflachung des Liebesgefühls ein wie bei jeder sinnlichen Lust? Oder schmieden geteilte Ideale die wahre Liebe und halten solche Ideale ein Paar ein Leben lang zusammen?
Posdnyschew, der enttäuschte Liebhaber in Tolstojs Geschichte, meint:
Solange jedoch die Menschheit lebt, schwebt ihr ein Ideal vor, das natürlich nicht das Ideal der Kaninchen oder Schweine sein kann, sich so stark wie möglich zu vermehren, und auch nicht das Ideal der Affen oder der Pariser, den Geschlechtstrieb so raffiniert wie möglich auszuüben, sondern ein Ideal des Guten, das durch Enthaltsamkeit und Reinheit erreicht wird. (S.20)
Tolstoj hat meiner Meinung nach Recht. In unserer Zeit idealisieren wir allerdings nicht mehr die Reinheit einer Liebe, sondern wir idealisieren das Gefühl selbst, sehnen uns nach einem Gefühl fortdauernder Verliebtheit. Nach einem Gefühl von frischer Verliebtheit, von Frische, Angeregt- sein, Lebendig sein, Prickeln, das zu Beginn einer Liebe allein durch die Präsenz des Anderen ausgelöst wird. Wir idealisieren heute eher die Verliebtheitsgefühle als die „reine Liebe“.
Wir sehnen uns nach diesem Gefühl der Verliebtheit und reflektieren doch so wenig kritisch, was genau dieses Gefühl am Anfang einer Liebe gestiftet hat und zum Verliebt sein geführt hat. Fragt man Paare, wenn sie sich in einer Krise für eine Paartherapie anmelden, was bei jedem damals die Verliebtheit ausgelöst hatte, hört man ganz Verschiedenes. Einige können es nur unspezifisch sagen: Sie hat mir einfach gefallen… ihr Lachen… sein Humor… es hat einfach gestimmt… wir verstanden uns gut. Andere beschreiben differenzierter: ihre Sensibilität… ihre Wachheit… sein Abenteuergeist… sein Interesse… er konnte mir gut zuhören… sie stand auf eigenen Beinen…mit ihr konnte man Pferde stehlen. Wenn einzig diese Kriterien zur Verliebtheit geführt hätten, könnte man sich wohl in viele Personen verlieben. Den meisten Menschen ist offenbar wenig klar, welche tieferen Motive in ihrer Liebessehnsucht zum Ausdruck gekommen sind und zur Verliebtheit geführt haben.
Viele Liebesgeschichten würden wohl schon am Anfang scheitern, wenn die Beteiligten sich gegenseitig die eigenen Motive offenlegen würden. Tolstoj beschreibt das doppelbödige Liebeswerben seiner Zeit sehr genau. Während die Männer in der gehobenen Schicht, der der selbst angehörte, in den Frauen vor allem ein sinnliches Objekt zur sexuellen Triebbefriedigung sahen, suchten die Frauen in den Männern eine gute Partie, die ihnen Sicherheit, Wohlstand und Luxus bot. Männer wie Frauen verheimlichten dem Anderen, aber auch sich selbst natürlich diese Bedürfnisse. Ihre eigentliche Absicht blieb hinter dem Schleier eines Ideals der reinen Liebe verborgen. Tolstoj demaskiert dieses gegenseitige Versteckspiel beider Seiten schonungslos.
»So also lebte ich bis zu meinem dreißigsten Jahre,« fuhr er fort, »und nicht einen Augenblick gab ich die Absicht auf, zu heiraten und ein ganz ideales, reines Familienleben zu begründen, und in dieser Absicht sah ich mich eifrig unter den jungen Mädchen um, die für mich in Betracht kommen konnten. Ich besudelte mich selbst mit dem Schmutz der Ausschweifung und schaute gleichzeitig nach jungen Mädchen aus, die im Punkte der Keuschheit meiner würdig wären! (S 12)
In allen Romanen sind die Gefühle der Helden, die Teiche und Gebüsche, an denen sie entlang wandeln, bis ins kleinste geschildert; doch wenn die große Liebe solch eines Helden zu irgendeinem Mädchen beschrieben wird, verschweigt man wohlweislich, was mit ihm, diesem interessanten Helden, früher vorgefallen ist; kein Wort verlautet von seinen Besuchen in den Freudenhäusern, von seinen Abenteuern mit Stubenmädchen, Köchinnen und fremden Frauen. (S 13)
Nach Tolstoj spielen die Frauen seiner Zeit dieses Spiel gekonnt mit. Sie wissen genau, wie sie die Aufmerksamkeit der Männer auf sich ziehen können und setzen dafür ihre Reize hemmungslos ein.
Man sage der Frau Mama oder dem Fräulein selbst einmal die Wahrheit, dass es ihnen nur darum zu tun sei, einen Mann einzufangen: o Gott, wie beleidigt werden sie sein!……Sie weiß, dass die erhabenen Gefühle, die unsereins zur Schau trägt, durch und durch erlogen sind, dass es dem Manne nur auf den Körper ankommt, dass er alle Laster verzeiht, nicht aber ein hässliches, schlecht gearbeitetes, geschmackloses Kleid……Die Frauen, namentlich jene, die durch die Schule der Männer gegangen sind, wissen sehr wohl, dass die Gespräche über ideale Dinge eben nur Gespräche sind, und dass der Mann nur nach dem Körper verlangt und nach alledem, was diesen anziehend und verlockend erscheinen lässt. Und danach richten sie sich dann auch. …..Daher diese englischen Roben, diese abscheulichen Tournüren, diese nackten Schultern, Arme und womöglich auch Brüste. (S 14)
Was wäre passiert, wenn der Mann in Tolstojs Zeit ungeschminkt der Frau mitgeteilt hätte: Du gefällst mir so gut! Wenn du mir sexuell immer zu Diensten sein wirst, und mir dazu noch das Gefühl gibst, der Beste und Liebste zu sein, sorge ich für dich und verwöhne ich dich mit allem, was du begehrst.
Und die Frau im Gegenzug dem Mann geantwortet hätte: wenn du gut für mich sorgst und mich materiell verwöhnst, und mir dazu noch das Gefühl gibst, dass du mich ehrst und ernst nimmst, steige ich gerne mit dir ins Bett und bin dir zu Diensten.
Hätte ein solcher funktionaler Tauschhandel auch zu Gefühlen der Verliebtheit geführt? Wohl kaum….Auch wäre von vornherein deutlich gewesen, dass ein solches Zusammenspiel, so ungleich die Bedürfnisse von Beginn an waren, kaum lange gut funktioniert hätte.
In Tolstojs „Kreutzersonate“ kommen die funktionalen Bedürfnisse des Mannes deutlicher zum Vorschein. Der Fürst Posdnyschew gestattet seiner Frau Musikstunden bei einem Klavierlehrer.
Sobald er merkt, dass seine Frau das Zusammensein und Musizieren mit diesem stärker schätzt als die Gegenwart mit ihm, steigt seine Gekränktheit und Eifersucht allmählich ins Unermessliche. Bevor er überhaupt real betrogen worden ist, wittert er beim Musiklehrer und seiner Frau immer und überall sexuelles Begehren und entwickelt daraus das Gefühl des Betrogen seins. Am Ende steigerte er sich in einen Rausch von rächender Mordswut, in welchem er sie dann umbringt. Wohl durfte sie mit ihrer körperlichen Attraktivität die Aufmerksamkeit anderer Männer auf sich ziehen, solange die Aufwertung ihm zugutekam. Ihr Vergehen ist, dass sie die Aufmerksamkeit des Musiklehrers emotional beantwortet. Deren geistige Verbundenheit zu spüren wurde für ihn unerträglich und eine massive Bedrohung. Ihm und einzig ihm und seinen sexuellen Bedürfnissen hätte die Frau zu Diensten sein müssen.
Ich erinnerte mich, wie sie sanft, selig und schmachtend lächelte und sich den Schweiß von dem geröteten Gesichte wischte, als ich an das Klavier herantrat. Schon da vermieden sie es, einander anzusehen, und erst beim Abendessen, als er ihr Wasser eingoss, sahen sie einander mit kaum merklichem Lächeln an. Mit Entsetzen erinnerte ich mich jetzt ihres Blickes mit dem kaum merklichen Lächeln. ›Ja, alles ist zu Ende‹, sagte mir eine Stimme….(S.47)
Tolstoj macht in seiner Erzählung allerdings nicht allein die Frau für das Scheitern der Ehe verantwortlich. Selbstkritisch und reumütig beschuldigt er in der Erzählung nämlich den Mann, er habe seine Frau in seiner sinnlichen, triebhaften Lust zur Sklavin seiner Bedürfnisse gemacht.
Empörend war es schon, dass ich mir ein zweifelloses Recht auf ihren Körper anmaßte, als ob es mein Körper wäre, während ich auf der andern Seite fühlte, dass mir ein Eigentum an diesem Körper durchaus nicht zustand, dass er keineswegs mir gehörte, dass sie darüber verfügen dürfe, wie sie will, und wenn sie darüber nicht so verfügt, wie ich es will, so darf ich eben weder ihm noch ihr etwas antun.(S.50)
Er bezichtigt aber genauso die Frau, dass sie den Mann im Gegenzug zu ihrem Sklaven mache, indem dieser für alle ihre materiellen Konsumbedürfnisse zu sorgen habe.
›Ah, ihr wollt, wir sollen nur ein Gegenstand der Sinnenlust sein? Gut, so wollen wir, als Gegenstand der Sinnenlust, euch zu unsern Sklaven machen!‹ sagen die Frauen. ….»Worin äußert sich denn diese außerordentliche Macht?« fragte ich.
»Worin die Macht sich äußert? Überall, in allem. Besuchen Sie nur in der ersten besten Großstadt die Verkaufsläden. Millionenwerte stecken in ihnen; unschätzbar ist die Summe menschlicher Arbeitskraft, die auf die Herstellung der feilgehaltenen Waren verwandt ist. Sehen Sie einmal zu, ob in neun Zehnteln dieser Läden überhaupt etwas zum Gebrauch der Männer zu haben ist. Aller Luxus des Lebens ist ein Bedürfnis der Frauen und wird von ihnen gefördert.» (S16)
Im Streben nach sinnlicher Befriedigung überhaupt sieht er die Ursache des Zerfalls ihrer wahren Liebe. Dabei macht er keinen Unterschied zwischen der körperlichen Anziehung und dem Verfolgen gemeinsamer geistiger Interessen, die genauso die Sinne anregen und in einen Rausch versetzen können.
»Sie spielten Beethovens Kreutzersonate«, fuhr er dann fort. »Kennen Sie das erste Presto? Kennen Sie es? Oh!« schrie er auf. »Oh, oh! Was für ein furchtbares Ding, diese Sonate, und zwar gerade dieser Teil! Und überhaupt die Musik – was für eine entsetzliche Sache! Was tut sie? Und warum tut sie eben das, was sie tut? Es heißt, die Musik erhebe die Seele – Unsinn, Lüge! Sie wirkt überaus stark, gewiss – ich spreche von mir – doch von einer seelischen Erhebung ist bei ihrer Wirkung nicht im geringsten die Rede; sie wirkt auf die Seele weder erhebend noch niederdrückend, sondern erregend. Wie soll ich es Ihnen sagen? Die Musik zwingt mich, mich selbst und das, was meine Wirklichkeit ist, zu vergessen, sie versetzt mich in eine andere Wirklichkeit, die nicht die meine ist; ich habe unter dem Einflusse der Musik den Eindruck, dass ich etwas fühle, was ich im Grunde genommen gar nicht fühle, etwas begreife, was ich nicht begreife, etwas vermag, was ich nicht vermag. Ich erkläre das damit, dass die Musik wie das Gähnen oder das Lachen wirkt: ich bin nicht schläfrig, doch ich gähne, wenn ich andere gähnen sehe; ich habe keinen Grund zum Lachen, doch ich lache, wenn ich andere lachen höre. Die Musik versetzt mich plötzlich, unmittelbar, in jenen seelischen Zustand, in dem sich der Urheber der Musik befunden hat. Unsere Seelen verschmelzen, und ich schwebe mit ihm zusammen aus dem einen Zustande in den andern hinüber. (S45ff)
Die wirkliche Beziehung zeigt sich mit grausamer Wucht, sobald die sinnlichen Bedürfnisse erfüllt sind: zwei Egoisten, für die der Partner oder die Partnerin einzig eine funktionale Bedeutung hat.
Die Wirkung dieses ersten Streites war entsetzlich. Ich nenne es einen Streit,doch es war kein Streit – es war nur eine Enthüllung des Abgrundes, der in Wirklichkeit zwischen uns bestand. Die Verliebtheit hatte sich in der Befriedigung der Sinnlichkeit erschöpft und wir standen einander nun in unserem wirklichen Verhältnis gegenüber als zwei einander völlig fremde Egoisten, von denen ein jeder sich bemühte, durch den andern so viel Genuss wie möglich zu empfangen. Ich nannte das, was zwischen uns vorgefallen war, einen Streit, es war jedoch kein Streit, sondern nur eine Folge der Unterbrechung unserer sinnlichen Beziehungen, die unsere wirklichen Beziehungen zueinander offenbarte. (S22)
Sofia Tolstoja, die Frau von Tolstoj, hat interessanterweise eine Erzählung mit dem Titel «Eine Frage der Schuld» geschrieben, in der sie das Scheitern einer Liebe aus ihrer Perspektive thematisierte. Sie schuf damit eine Art Gegen-Erzählung zur «Kreutzersonate», eine Antwort auf das Werk ihres Mannes, bei der sie offenbar den Eindruck hatte, er bezichtige allein die Frau wegen deren platonischen Verhältnisses mit dem Musiklehrer für das Scheitern der Beziehung schuld zu sein.
In ihrer Geschichte entwickelt die Protagonistin Anna als Frau des Fürsten eine anregende Beziehung zu Bechmetew, einem Freund ihres Mannes, der ähnliche kulturelle, künstlerische und philosophische Interessen wie sie pflegte und sie entsprechend umschwärmte.
„Bechmetews Fürsorge und Anteilnahme an Annas Leben äusserte sich in allem. Sie liebte Blumen – er füllte ihr ganzes Haus mit den schönsten, die es gab. Sie liebte es vorgelesen zu bekommen – er suchte interessante Aufsätze und Bücher aus und las sie ihr abendelang vor….Allein ein solches Verhältnis zur Frau, liebevoll und uneigennützig, vermag vollkommenes Glück in ihr Leben zu bringen.“ (S 114)
Ein solches Ideal hatte ihr vorgeschwebt, als sie geheiratet hatte. Zu spüren, dass ihr Mann sich allein für ihre äussere Schönheit und der daraus resultierenden Aufwertung bei andern Männern interessierte, fühlte sich erniedrigend an für sie. Dass sie zunehmend Liebesgefühle einem anderen Mann gegenüber empfand, sah sie deswegen nicht als eigene Schuld an, sondern als Schuld ihres Mannes, der sie auf ihre körperlichen Reize reduziert und damit erniedrigt hatte.
„ …wenn es geschieht, dass eine verheiratete Frau einen anderen liebgewinnt, trägt fast immer der Mann die Schuld; er hat die empfindsamen Ansprüche der jungen, reinen weiblichen Natur, statt ihnen zu genügen, zerstört, indem er ihr nichts als die groben Seiten der Ehe bot. Schlimm, wenn es einem anderen gelingt, die vom Ehemann hinterlassene Leere auszufüllen, und er jene erste, idealisierte Liebe auf sich zieht.“ (S176/177).
Natürlich hat diese absolute Erwartung ihres Mannes, mit ihren Reizen ihm und nur ihm zur Verfügung zu stehen, etwas absolut Erniedrigendes. Als Mensch mit eigenen Bedürfnissen und Werten wird sie tatsächlich nicht wahrgenommen.
Was aber erwartet sie vom Mann, wenn sie primär vom Ideal einer geistigen Beziehung träumt? In der Erzählung wird deutlich, wie sie ein eins sein mit ihren Werten und Bedürfnissen sucht. Sie will spüren, dass der Mann ihre Interessen mit gleicher Begeisterung teilt; das allein weckt ihre Liebesgefühle. Sie sucht eine Art «Zwillingsbeziehung»; einen Mann, der ihre Ideale vollkommen teilt, und mir ihr einen anregenden geistigen Austausch führt. Sobald der Musiklehrer Andeutungen macht, dass er sich auch körperlich angezogen fühlt und sie gerne ganz, eben auch körperlich, lieben möchte, verhärtet sie sich ihm gegenüber.
„Anna blickte ihn gequält an. „Wie, auch Sie denken so? Aber solche Ansprüche müssen die Liebe doch umbringen, und sie wird tagtäglich umgebracht von allen, ja, allen.“
„Was vermag denn die Liebe am Leben zu erhalten, Fürstin, und zwar für lange?“
„Oh, natürlich allein eine geistige Beziehung. Eine solche Liebe ist ewig, für sie gibt es keinen Tod.“
„Ausschliesslich eine geistige Beziehung, meinen Sie?“
„Ich weiss nicht, ob ausschliesslich oder nicht, aber auf jeden Fall in erster Linie, darin liegt es, das unzweifelhafte Glück.“ (S140)
In diesem Bedürfnis nach geistigem Eins sein nimmt sie den Mann ebenfalls nicht als eigenständige Person wahr. Der Partner hat, genau betrachtet, vor allem die Funktion der Erfüllung ihres eigenen Liebesideals. Attraktiver als diejenige ihres Mannes ist ihre Art von Liebesvorstellung insofern, als sie dem Partner nicht eine untergeordnete Rolle zuweist. Während die Liebesvorstellung des Mannes beherrschend ist, die Frau ihm zu Diensten sein soll, ist die Vorstellung der Frau eher verschmelzend.
In beiden Erzählungen kommt deutlich zum Ausdruck: Jeder Mensch hat eine mehr oder weniger unbewusste Vorstellung von Liebe in sich, man könnte sagen, ein Konzept von Liebe. Das Gefühl der Liebe steht in einem Zusammenhang zur eigenen Liebesvorstellung oder -erwartung und wie sehr diese erfüllt wird. Beispiel für Liebesvorstellungen sind: Ich fühle Liebe….wenn mich meine PartnerIn uneingeschränkt gut findet, mir das Gefühl gibt ein Besonderer zu sein, ich mich nie mehr alleine fühle oder ähnliches. Kaum jemand ist sich seiner Liebes-Vorstellung und der damit verknüpften Bedürfnisse, die mit ihr befriedigt werden sollen, bewusst. Man versteckt diese vor sich selbst und vor dem anderen, wird aber unbewusst doch geleitet von diesen.
Treffen sich zwei Menschen und verlieben sie sich, kann man annehmen, dass sich die beiden Vorstellungen gut ergänzen und zu einem Ganzen zusammenfügen. Wenn du mir das gibst, was ich brauche, gebe ich dir das, was du brauchst. Verliebtheitsgefühle beflügeln die zwei. Ich fühle mich nicht mehr alleine, und du fühlst dich als Besonderer bestätigt. Eine perfekte Kombination! Man spricht auch von einem unbewussten Liebesvertrag. Der lautet beispielsweise: wenn du mir – immer wenn ich dich brauche- zur Verfügung stehst und ich mich also nicht alleine fühle, werte ich dich auf und du fühlst dich nicht mehr unwert! Das funktioniert in der Regel eine Zeitlang ganz gut. Die unterschwellige funktionale Bedeutung, die jeder für den anderen hat, ist allerdings immer da, einfach noch überdeckt, aber droht ständig hervorzubrechen. Nach Tolstoj wird es bereits gefährlich, dass der Tauschhandel auffliegt, sobald die funktionalen Bedürfnisse befriedigt sind. Wenn Kinder als Dritte dazwischen kommen, wird es noch schwieriger, einen solchen unbewussten Tauschhandel von beiden Seiten zu erfüllen.
Ein untrügliches Zeichen dafür, dass die beiden Liebes-Konzepte nicht mehr beidseitig erfüllt werden (können), zeigt sich darin, dass Spannungen und ungute Gefühle, Enttäuschungen, Kränkungen, Vorwürfe, Ärger bis Wut, Gleichgültigkeit oder Distanzierung zunehmen. Wenn man diese Gefühle zu verstehen versucht, kann man die eigene Liebeserwartung am schnellsten aufdecken. In diesen Momenten hat der Partner die eigene Erwartung offensichtlich nicht erfüllt. In der Erzählung von Tolstoj entwickelt der Mann aus seinem Misstrauen heraus starke Eifersucht und Wut; die Frau, im Gegenzug, distanziert sich emotional mehr und mehr und steigert damit die Eifersucht des Mannes noch, während der Mann seine Frau mit seinen Ausbrüchen und Vorwürfen mehr und mehr in die Arme des Musikfreundes treibt.
An diesem Punkt ist es tatsächlich schwierig, eine Beziehung wieder auf eine gute Basis zu stellen. Beide Menschen haben viel Grund für die von ihnen empfundenen Gefühle, solange sie nur auf das Verhalten ihres Partners schielen. Was sie dabei meist nicht wahrhaben wollen ist, wie sie schon von Beginn einer Beziehung an mit ihrem unbewussten Liebesverständnis den Partner auch funktionalisiert haben und dies – sobald er die zum Liebesverständnis gehörenden Erwartungen nicht erfüllt – solch ungute Gefühle auslöst.
Die Frau fühlt sich auf den Körper reduziert und als Frau erniedrigt, wenn er sie nicht als Wesen mit eigenen Interessen, die sich von seinen stark unterscheiden können, wahrnimmt. Zu Recht – darf man sagen.
Der Mann fühlt sich zunehmend als Lüstling abgewertet und weggestossen, wenn sie das Zusammensein mit einem anderen Mann, vorzieht. Zu Recht – darf man sagen.
Die Gefühle und Reaktionen beider sind von Beginn der Beziehung an in deren Liebesvorstellungen praktisch vorgezeichnet gewesen. Beide hätten es – wenn sie es sich eingestanden hätten – von Anfang wissen können. Die Liebessehnsucht beider (wie in der Realität so oft) scheint stärker gewesen zu sein.
Was macht es, dass die Liebessehnsucht obsiegt und wir uns vorgaukeln, wir hätten den genau passenden Liebespartner gefunden, mit dem wir endlich unsere Liebeserwartungen erfüllen können? Wir ihn dann aber mit Vorwürfen und anderen unguten Gefühlen bestrafen, wenn er nicht mitspielen und die dazugehörige Erwartung erfüllen kann oder will?
Hat es einfach damit zu tun, dass man sich selbst in einem besseren Licht sieht oder sehen will und sich deswegen die eigene Liebeserwartung nicht eingesteht, so dass man bei den berechtigten Vorwürfen des Partners das Gefühl hat, dieser tue einem Unrecht?
Oder hat es damit zu tun, dass man insgeheim das Gefühl hat, wenn man den anderen nur lange genug mit Schuldgefühlen bearbeite, würde man diesen schon noch herumkriegen, dass er den eigenen Erwartungen entsprechen werde? Sozusagen im Sinn von «Steter Tropfen höhlt den Stein»?
Oder gehört es zur Liebe ganz grundsätzlich: Dass man miteinander und aneinander diese Erwartungen des einen wie des anderen immer wieder enttäuschen muss, um damit den anderen mehr und mehr als eigene Person wahrnehmen zu können? Fängt die Liebe erst dann an, wenn die eigenen Erwartungen zurückgenommen werden und wir den anderen und uns selber realer wahrnehmen können? Ist Liebe demzufolge weniger ein „Volltreffer“ in Form des perfekten Partners, als ein Prozess, den man miteinander erarbeiten muss?
Seyda Kurt stellt in ihrem Buch „Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist.“ (HarperCollins 2021) das Konzept der „romantischen Liebe“ radikal in Frage und will dieses entmystifizieren, da es Gewaltverhältnisse und Hierarchien, die in unserem kapitalistischen System strukturell angelegt seien, verschleiere.
In einem interessanten Interview zu ihrem Buch (Das Magazin Nr.31, 7. Aug. 2021) meint sie:
„In meiner Utopie würde man jedenfalls nicht sagen: „Ich liebe dich“, Causa abgehakt. Stattdessen würde man sich überlegen: Was bedeutet mir dieser Mensch? Wie wollen wir die Beziehung gestalten? Wie kann ich das in Worte fassen? Oder anders gesagt: In der radikalen Zärtlichkeit würde man nicht ein vorgegebenes, vermeintlich romantisches Drehbuch abspulen, sondern sich mit seinem Gegenüber auseinandersetzen und versuchen, es in seiner Andersartigkeit zu erkennen.“(Das Magazin S18)
Liebe definiert sie nicht als Gefühl, das wie eine Naturgewalt über zwei Menschen hereinbreche, sondern vielmehr als Entscheidung, die zu einer täglichen Praxis führe, das Beziehungsverhältnis immer wieder zu hinterfragen und zu verändern. Liebe weniger als Gefühl, denn als Tun. Sie meint:
“…statt „Ich liebe dich“ könnten wir sagen: Ich fühle mich mit einem Menschen derart verbunden, dass ich glaube zu lernen, was Liebe bedeutet.“ (Das Magazin S18)
Weg vom emotionalen Wechselbad von Sehnsucht und Enttäuschung auf der Suche nach der idealen Liebe zum Lieben als lebenslanger Lernprozess von Entmystifizierung und Entwicklung. Anders ausgedrückt: in einer Liebesbeziehung wird man immer wieder konfrontiert mit allen Seiten von sich und denjenigen der Partner*in, auch den unerwünschten, ungeliebten. Gelingt es, immer wieder dieses neue, ganzheitlichere und somit realere Bild zu integrieren und zu akzeptieren und sich und den anderen auch so gern zu haben?
Eine spannende und bereichernde Alternative zur romantischen Liebesvorstellung, die eine Beziehung ungemein vertiefen wird.
Quellen:
Leo Tolstoj Die Kreutzersonate, 1889
Sofia Tolstoja «Eine Frage der Schuld» (1893/94)
Seyda Kurt in einem Interview mit Nina Kunz Das Magazin 31, Aug 2021
Seyda Kurt Radikale Zärlichkeit. Warum Liebe politisch ist. HarperCollins2021