Dieses Essay von Philipp Blom hat die Bühne unseres gegenwärtigen Lebens im 21. Jahrhundert schlechthin zum Thema. Erschienen zum 100. Jubiläum der Salzburger Festspiele macht Blom deutlich, wie Menschen und Gesellschaften in verschiedenen Zeiten gemeinsam geteilte und emotional  berührende Geschichten brauchen, die sie befähigen mit den gesellschaftlichen und technologischen Umbrüchen fertig zu werden.

Als Beispiel aus der Geschichte führt der Historiker Blom die «Kleine Eiszeit» des 16. Jahrhunderts an, eine längere Kälteperiode mit Missernten, verteuerten Lebensmitteln und Hungersnöten. Diese wurde zuerst weithin als göttliche Strafe interpretiert. Entsprechend versuchte man Gott durch Bussgottesdienste und ähnlichem gütig zu stimmen. Die harten Winter blieben aber unbeeindruckt. Deshalb kam es nach jeder Missernte auch zu einer Welle von Hexenverfolgungen. Man beschuldigte Frauen, die Ernte verhext oder sich sogar mit dem Teufel eingelassen zu haben. Erst nach und nach begann man empirisch nach anderen Ursachen zu forschen und den Handel über die Grenzen auszuweiten, so dass man weniger vom lokalen Geschehen abhängig war. Eine neue Epoche mit einer neuen Geschichte und einem neuen Selbstbild wurde eingeläutet, was aber seine Zeit brauchte.

Jeder Umbruch ist nicht nur eine äussere Veränderung, sondern stellt auch das Selbstbild des Menschen radikal in Frage, wie der Autor anhand der fünf grossen narzisstischen Kränkungen des Menschen (Galilei, Darwin, Freud, Hubble, Sacks) stimmig darlegt. Wenn wegen einer grossen Veränderung die alte Geschichte nicht mehr greift, brauchen Menschen neue, gemeinsam geteilte Erzählungen, die ihnen wieder ein Gefühl von Sicherheit geben.

In der aktuellen Zeit wäre eine solche neue gemeinsame Geschichte nach Blom besonders wichtig,  soll die Menschheit eine Zukunft haben. An die neo-liberale Geschichte, die uns seit einigen Jahrzehnten leitet und immer noch weiszumachen versucht, dass eine von Fesseln befreite und globalisierte Wirtschaft die ganze Menschheit zu Wohlstand, Glück und Selbstverwirklichung führen könne, glauben immer weniger Menschen. Die Kosten dieses entfesselten Wachstums machen sich in allen Sphären der Erde unwiderruflich bemerkbar, wenn man nur schon den Verlust der Biodiversität und den Klimawandel betrachtet. Diese Geschichte scheint an ihr Ende gelangt zu sein.

Die heutige Zeit charakterisiert Blom nicht einfach als Wechsel zu einer digitalen Gesellschaft, sondern als «flüssige Moderne» (Zygmunt Bauman) mit einer immensen zerstörerischen Strömung, die alle Sicherheiten aufhebt, die kein Ziel mehr kennt, nur noch Strömung und Steigerung.

«Er (Bauman) skizziert die digitale, globalisierte und marktbeherrschte Ära….., in welcher der globale Fluss von Kapital, Waren, Menschen, Erderhitzung, Terrorismus, Informationen und Propaganda kaum zu kontrollieren ist, über alle Mauern quillt und alle Deiche überspült, in der die Souveränität von Staaten und anderen Kollektiven zur reinen populistischen Illusion geworden ist.» (S73)

Und Blom fragt sich meiner Meinung nach zurecht, ob sich Alternativen zu diesem unberechenbaren Chaos überhaupt denken lassen, ohne sich einfach an naive Utopien zu klammern. Drei Generationen sind verflossen, seit die ersten Glühbirnen brannten. Und nun stehen wir angesichts einem immensen Anstieg der Weltbevölkerung, einer digitalen Umwälzung, dem Klimawandel und dem massiven Verlust der Biodiversität vor ungeahnten Herausforderungen. Angesichts dieser radikalen Verunsicherung ist es verständlich, dass die Menschen in Geschichten wie «nationaler Souveränität» Halt, Kontrolle und Sicherheit suchen.

Nötig wäre aber eine gemeinsam geteilte Geschichte, die mit dem Bild des Menschen als Beherrscher der Natur aufräumen und den Menschen stattdessen als Teil eines unendlich komplexen Netzwerks gegenseitiger Abhängigkeiten (biologisch und sozial) beschreiben würde. Gerade die Herausforderung des Klimawandels könnte als gemeinsame Erfahrung  in einer solch neuen, gemeinsam geteilten Geschichte münden. Nach Blom besteht aber genauso gut die Möglichkeit, dass ein Klima der Angst und des Ausnahmezustands zu einem autoritären Umschwung mit Verleugnung, Feindschaften und Gewalt führen könnte. Die demokratische Ordnung wäre rückblickend dann gerade eine kurze Episode der Geschichte gewesen.

So endet Blom mit der Aufforderung: «Neue Bilder zu finden für diese Herausforderung ist das Friedensprojekt der Gegenwart. Alles andere folgt.» (S. 121)

Ein sehr lesenswertes, anregendes Buch eines Autors, der unaufgeregt und ohne moralische Keule die Zerrissenheit der heutigen Dynamik beschreibt und analysiert.

Klappentext

Wir leben in der besten aller Welten: Nie zuvor gab es so lange Frieden bei uns, nie waren wir so reich, so sicher. Diese Geschichten erzählen wir über uns selbst. Was aber, wenn sie nicht der Wirklichkeit entsprechen? Wenn die Demokratien bröckeln, der Hass zwischen den sozialen Gruppen wächst, das Wirtschaftswachstum stagniert, die Gefahr einer Klimakatatstrophe steigt?

Autor

Philipp Blom Das grosse Welttheater – Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs 2020  Zsolnay  ISBN 978-3-552-05980-11970

Studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford